Einssein

Ansprache von Bulent Rauf am World Symposium on Humanity, London 1979

Für uns von der Beshara-Schule ist es eine besondere Freude, über das Einssein zu sprechen. Es ist unsere tägliche Nahrung, weil unser beständiges und einziges Ziel darin liegt, jenen Punkt in der Einheit der Existenz zu erreichen, den wir „Einssein“ nennen. Folglich grüßen wir alle von Herzen, die sich diesem Einssein ernsthaft widmen, ihm in dieser Welt Geltung verschaffen oder es fördern wollen. Der einzige Grund und der ausschließliche Zweck der Menschheit auf der Erde ist nämlich dieses Einssein. 

Wir glauben fest daran, dass es nur ein unteilbares und einzigartiges Existierendes gibt, und dass, um es einfach auszudrücken, die ganze Vielfalt, die wir scheinbar wahrnehmen, nichts anderes ist als das Abbild des einen absoluten und vollständigen Seins in der Relativität. Dies ist es, was wir „die Einheit der Existenz“ nennen.

Seit Jahrhunderten hat die Menschheit von einem Ende der Welt bis zum anderen um diese Wahrheit gewusst, über sie gesprochen und auf ihr beharrt. All jene, die uns in der bekannten Menschheitsgeschichte als Weise, Propheten und dergleichen begegnen, haben immer wieder dieselbe universelle Wirklichkeit in unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt. Alle Religionen, von den allerältesten bis zu den neuesten, haben ihre esoterischen Grundlagen auf derselben fundamentalen Wahrheit errichtet: auf der Existenz dieses einzigartigen Seins, welches die absolute Ipseität (Selbstheit) dessen ist, was wir Tao, Gott, Elohim, Allah und so weiter nennen.

In jedem Menschen gibt es einen geheimen Ort in dieser Ipseität. Wer seine eigene Wirklichkeit kennt, kennt seinen Ort in der Ipseität. Durch Dienen, Wissen und Liebe streben wir nach Vervollkommnung des Menschen. Der vervollkommnete Mensch ist eins mit der Ipseität. Philon von Alexandria, der ungefähr zur selben Zeit wie Jesus Christus lebte, schrieb: „Der vollkommene Mensch ist theos (Gott), obschon er nicht o theos (der Gott) ist.“ Der Mensch ist nicht anders als seine Wirklichkeit, obwohl er nicht die Wirklichkeit ist.

Das Streben nach einem Wissen dieses Ausmaßes ist für jeden Menschen möglich. Wenn er es bewusst erreicht, ist er eins mit seiner Essenz, welche die Ipseität ist.

Um sich dieser Möglichkeit bewusst zu werden, muss der Mensch sich nur umschauen. Unter allen Geschöpfen dieser Erde vermag allein er diese Vorstellung zu fassen, sich zu eigen zu machen und sie seine „Tatsachen“ zu nennen.

Auf Basis dieser Tatsachen – wie etwa Einsteins E = mc² oder der Expansion des Universums mit all seinen Quasaren, Pulsaren, schwarzen Löchern oder Sternennebel und Galaxien etc. – kann der Mensch weitere, ebenso überwältigende Tatsachen erkennen, um darauf wieder andere Welten aufzubauen. Wie Sufis es manchmal gesagt haben, macht dieses Potenzial den Menschen sicherlich zum Makro¬kosmos; und das, was er mit seinem Verstand zu fassen vermag, nämlich das Universum, ist der Mikrokosmos.

Zweifellos ist es wahr, dass Gott den Menschen nach Seinem eigenen Bild erschaffen hat. Mit diesem Potenzial, diesem Vermögen, Universen zu beschreiben und in seinem Verstand zu fassen, mit seiner Fähigkeit, die Vereinigung zu erreichen mit dem absoluten und daher einzigartigen Sein, wobei er selbst nicht davon verschieden ist, ist der Mensch ganz gewiss von überragender Größe. Nichts anderes kann zu dieser Entwicklungsstufe und dieser Höhe gelangen als der Mensch. Wenn der Mensch sich dieser Realität seiner Größe ständig bewusst ist, ist er ein vollkommener Mensch. Und für diesen vollkommenen Menschen wurde das Universum, zu dem seine Erde gehört, überhaupt erst erschaffen, so dass er es kennen, ihm dienen und es lieben kann.

Liebe ist die Bewegung von Schönheit. Schönheit ist das letztendliche Ziel der Liebe. Wo keine Schönheit ist, ist Elend. Als der tibetische Lama Arkon vor einigen Jahren an unserer Schule Vorträge hielt, fragte ihn einer meiner Mitstudenten, weshalb es auf der Welt so viel Elend gäbe. Arkons Antwort war ebenso überragend wie sein Wissen. Er antwortete: „Warum gibt es das Ich“, die erste Person Singular? Der Mensch, dessen Zentrum in seiner ersten Person Singular liegt, kann weder wissen noch dienen, noch kann er lieben. Um ins Einssein zu gelangen, muss der Mensch lieben. Wenn nicht, dann nicht. Wenn der Glaube eines Menschen die Liebe ist, wird er das Einssein ersehnen, danach streben, daran arbeiten und es erlangen.

Ich zitiere Muhyiddin Ibn Arabi, einen andalusischen Mystiker aus dem zwölften Jahrhundert:

Welche Herrlichkeit!
Ein Garten inmitten der Flammen!
Mein Herz hat sich für jegliche Form geöffnet:
Es ist eine Weide für Gazellen,
und ein Kloster für christliche Mönche,
und ein Tempel für Götzenbilder,
und die Kaaba der Pilgernden,
und die Tafeln der Thora,
und das Buch des Korans.
Ich folge der Religion der Liebe:
Welchen Weg der Liebe die Kamele auch einschlagen,
das ist meine Religion und mein Glaube.

 


© Bulent Rauf / Meral Arim
Aus: Bulent Rauf: Addresses II, Beshara Publications, Roxburgh, United Kindom
Übersetzt aus dem Englischen von Robert Cathomas und Helga Jacobsen