Die Küche in Chisholme
Die Kühle des Nichtverhaftetseins und das Feuer der Transformation
Aaron Cass
(Aus: Der Pfad der Kichererbse; Ein Lesebuch vom Kochen und Gekochtwerden, Robert Cathomas & Helga Jacobsen [Herausgeber])
Die Beshara-Schule im Chisholme House verfügt über eine Großküche, die einzigartig ist. Vielleicht liegt das daran, dass hier jeden Tag frisches Brot gebacken wird oder dass das Lamm direkt vom Feld stammt, welches vom Speisesaal aus zu sehen ist, oder auch daran, dass die ummauerten Gärten, trotz ihrer Lage auf gerade mal zwanzig Meter unterhalb der landwirtschaftlichen Höhengrenze, fast die ganzen kurzen Anbaumonate hindurch einen Großteil des Gemüsebedarfs decken.
Möglicher weise liegt die Besonderheit aber auch darin, dass an diesem Ort meistens, selbst in der Hitze des Gefechts vor einem Bankett für zwei hundert Gäste, eine Stimmung wachsamer Ruhe knistert, die zur Größenordnung und Herausforderung dessen, was vor sich geht, scheinbar im Widerspruch steht. Oder vielleicht auch weil sie sich auf jene Art von Mangelwirtschaft, der die meisten Großküchen verfallen sind, bewusst niemals ein gelassen hat – und das, seit sie 1973 eingerichtet wurde, damals nicht viel mehr als eine bessere Kochnische, die in jenem ersten Winter noch keiner Kühl schränke bedurfte, als sie die Seelen der wenigen Pioniere ernährte, die Küche selbst ebenso restaurationsbedürftig wie die noch etwas ungehobelten, aber willigen neuen Bewohner, die das baufällige, aber vielversprechende Chisholme House in Besitz genommen hatten; seit jenen frühen Tagen, als der Weg zur Küche noch über ein Holzbrett führte, das ein Loch zum Keller hinunter abdeckte, bis heute, da sie über einen modernen Dunstabzug verfügt, rostfreie Edelstahloberflächen und Hackbretter in verschiedenen Farben für die unterschiedlichen Zwecke, Kühlschränke, die im Hintergrund betriebsam vor sich hergurgeln, oder vierundzwanzig Kochbrenner und vier Backöfen, die mit vereinten Kräften eine schier apokalyptische Hitze zu erzeugen vermögen. Denn die Grundidee kommerzieller Großküchen entspringt einem Kontrollzwang oder der Furcht vor Kontrollverlust und fußt auf der Meinung, wir lebten in einem kalten, ungeselligen Universum, in dem ein Mangel an Mitteln uns und die anderen Bewohner in die Selbstsucht treibe und in eine Angst vor dem Dunkel oder vor was auch immer, was über unseren bescheidenen Verstand hinausgeht. Diese Art von Beklommenheit mag in unserer zynischen Zeit weit verbreitet sein, aber sie ist eine gänzlich unpassende Einstellung und schon gar keine taugliche Philosophie, auf der eine Esskultur, insbesondere eine solche mit explizit spirituellem Ansatz, gedeihen kann.
Besser, wir klappen unsere Schirme zu und stehen im Regen. Elijah wurde von den Raben ernährt, und Jesus reichten ein paar wenige Zutaten für sehr viel. Keiner dieser Akte beispielhafter Unterwerfung, der eine ein Ausdruck von Abhängigkeit, der andere von Göttlicher Vorsehung, ist ein Wunder im Sinne eines Verstoßes gegen die Naturgesetze. Im Gegenteil: Sie belegen die Wohltätigkeit der Natur und laden uns ein, das, was vor uns steht, mit neuen Augen zu betrachten.
Eine solche Vision, die der Anerkennung der Einheit des Seins entspringt, liegt der Beshara-Schule zugrunde; und daher ist ihre Küche dem Auftrag der Freigiebigkeit verpflichtet, in der diese Vision, passenderweise vielleicht, mehr eine Frage des Geschmacks als eine Philosophie ist – ein Ethos, der eher feiner sinnlicher Erfahrung entspringt als einer Ideologie.
Im Übrigen bedeutet das bewusste Bejahen des Universums als einen großzügigen Ort, was in der schneidenden Kälte des schottischen Winters nicht immer ganz einfach sein mag, nicht, in der Küche der Beshara-Schule gäbe es keine Budgetzwänge, Waagschalen, Messbecher oder Gewichts angaben; es besagt nur, dass diese Faktoren in richtiger Abstimmung zu Gehilfen des übergeordneten Geistes werden, in dessen Ausdruck ihr Existenzgrund liegt. In dieser Atmosphäre wird das Gewicht von fünfzig Gramm zum Verehrer seiner geliebten Hefe und das Crème-Caramel-Rezept zu einer Art Liebesbrief.
Die Küche der Beshara-Schule mag auch wegen deren Gründer Bulent Rauf so besonders sein, einem türkischen Emigranten und Mann von augenfälliger Würde, dessen mächtige Präsenz ein noch größeres Herz umgab und dessen ganzes Wesen bezeugte, dass alles innerlich tatsächlich größer ist als außen. Von einer Karotte über das Kochen bis hin zum Bewusstsein selbst ist alles, was existiert, in seinem Inneren größer und erreicht seinen horizontlosen wahren Umfang, wenn es ins gläubige Herz geschlossen oder in den passenden Kochtopf gelegt wird. Bulent, der kein Glas Wasser getrunken hätte, ohne Gott um Erlaubnis zu bitten, stellte unmissverständlich klar, dass Kochen eine tiefgründigere und weitreichendere Disziplin als die meisten anderen ist. Kochen stellt ein körperlich erfahrbares Zusammenwirken von chemischen und seelischen Vorgängen dar und verlangt sowohl ungeteilte Aufmerksamkeit (schon allein wegen der unmittelbaren Nähe zu tödlich scharfen Messern und offenem Feuer) als auch breite Kunstfertigkeit. Gleichzeitig erfordert es striktes Einhalten der Zeit, Flexibilität, Wachsamkeit, Geduld und Detailgenauigkeit. Seine Muse lässt jenen Koch im Stich, der nicht allen Zutaten die ihnen gebührende Beachtung schenkt oder dem es an geordneter, zeitbewusster Achtsamkeit in Bezug auf das letztendliche Ziel mangelt. Es ist eine Kunst und eine Lehre basierend auf einer einzigartig intuitiven und althergebrachten Spiritualität, und seine wichtigste Zutat ist schlussendlich die Dankbarkeit gegenüber der Natur, der Wirklichkeit und Gott.
In diesem Geist richtete Bulent die Küche der Beshara- Schule ein, um den dienstwilligen Lehrlingen in Sachen Selbsterfahrung einen praktischen Weg zum Wachsein zu eröffnen, eine Art dreidimensionale, alle Sinne an sprechende Anleitung zu guten Umgangsformen in Liebesdingen. Wobei »Liebe« hier die Liebe zur Einheit oder zur reinen Schönheit meint, die sich nicht durch Dieses oder Jenes auszeichnet, sondern sich im Geschmack eines jeden Gerichts und jeder Nachspeise aufspüren lässt wie Nizams Fußspuren in der Wüste von Muhyiddin Ibn Arabis mohammedanischem Herzen.
Auf diesem Pfad, auf dem man es liebt zu lernen und lernt zu lieben, zeigt sich die wirkliche Einzigartigkeit der Küche der Beshara-Schule. Sie ist ein Ort, an dem die Köche selbst gekocht werden – wo wir von Feuer und Druck und Zeit transformiert werden, so wie Kohlenstoff unter denselben drei Tutoren diamanten wird, nicht um uns in unserer ursprünglichen Verborgenheit irgendwie zu verändern, sondern einfach, um, nun erkennbar dem Licht ausgesetzt, unsichtbar zu werden.
Im Koran gibt es das Sprichwort: »Das Paradies ist umgeben von den Dingen, die du nicht leiden kannst.« Im Verlorenen Paradies war John Milton’s Eden mit Dornen umringt wie das Haupt Christi, schwebend über der Schwelle seiner Transsubstantiation am Tor zwischen den Welten. Wer die Früchte der Liebe kosten will, muss sich Prüfungen unterziehen, Aufgaben lösen, Schulung durchlaufen, das Ungenießbare essbar machen. Kochen ist, wie Achtsamkeit, ein Pfad der Rückkehr, der paradoxerweise unendlich viel Kreativität und Erfrischungen bereithält.
Anders als der von Jesus verkörperte Zustand der Vergöttlichung schließt die Praxis der Achtsamkeit, wie jeder Ansatz zu einer Integration von Sein und Wissen, sowohl Stille des Herzens als auch entschlossenes Engagement ein, denn ihr Ziel liegt, so glaube ich, im Bezeugen der Einheit des Seins in der Einheit des Seins. Sie ist sowohl Rückkehr als auch Abenteuer. Wie das Drehen der Derwische verbindet sie Kräfte, die sich gegenseitig ergänzen, und Kräfte, die einander entgegengesetzt sind, das Zentrifugale und das Zentripetale, zu einer ganzheitlichen Wirkung. Ein intuitives Verstehen dieser dynamischen Ordnung ist wichtig. Wenn Kochen als eine spirituelle Übung verstanden werden kann, dann deshalb, weil es ein bewusstes, konzentriertes Eintauchen in Materie und Energie verlangt statt eines glückseligen Schwebens oder unbeabsichtigten aber unvermeidlichen Sich-Verlierens im Durcheinander des Manifestierten.
Gleichgültigkeit oder intellektuelle Geistesabwesenheit sind an dieser Stelle genauso fehl am Platz wie eine Allesgeht- Haltung. Schließlich arbeiten wir hier in einer geschäftigen Küche und kochen im Regelfall für zwanzig bis dreißig Personen, zu besonderen Anlässen auch mal für das Zehnfache; ebenso wie die Zutaten werden wir eingetaucht, blanchiert, aufgebrüht, gesotten, geschmort, gebraten, gegrillt, eingefroren, geröstet – und verspeist. Unsere Kontemplation geschieht also mitten im Bann und in der Masse des Manifestierten. Die schiere Körperlichkeit der Nahrungsmittel und der Prozess ihres Schmackhaftmachens sind wahre Herausforderungen für jeden spirituellen Ansatz, der Transzendenz über Immanenz stellt, das Prinzipielle über das Praktische, unser geistiges Leben über das Wunder unseres körperlichen Fahrzeugs. Auch sind sie direkte Herausforderungen für unsere bewussten oder unbewussten Vorstellungen unseres Selbsts als einer Wirklichkeit, die von allem anderen getrennt ist. Wenn es brennt, zerren sie dich von dir weg; ihr Potenzial für äußerstes Chaos zwingt dich zur Flucht ins Auge ihres kreativen Sturms.
Das Musterbeispiel solch erfinderischer Zentriertheit war Mevlana Jalaluddin Rumis gefeierter Koch Semseddin Ateshbaz i-Veli, der seinen Fuß ins Feuer hielt, als ihm während des Kochens das Brennholz ausging. Das war keine Strafe für Vergesslichkeit oder mangelhafte Vorbereitung; es war ein Zeichen seiner Hingabe an den Transformationsprozess, den das Kochen nicht nur versinnbildlicht, sondern der es tatsächlich auch ist. Er vertraute darauf und wusste, dass sein eigenes Selbst – oder dasjenige in ihm, das die universelle Wirklichkeit seines wahren Selbsts verschleierte (Ibn Arabi hätte es wohl »die ›unerschaffene‹ Wirklichkeit der Person« genannt) – Brennstoff und, sinnvoll eingesetzt, für einen Zweck bestimmt war, der über ihn selbst hinausging und dessen Platz in der Ordnung der Dinge in den Zwillingszierden von Unterordnung und Asche liegt.
Und sein Meister Rumi, dem zu Gefallen er bereit war, seine Gliedmaßen herzugeben, rät dem Suchenden, still im Feuer zu stehen. Wiederum nicht, um die Überlegenheit des Geistes über die Materie zu beweisen oder die Gesetze der Physik zu bestreiten, noch zur Demonstration siegreicher Selbstaufopferung oder zum Zelebrieren eines Zustandes der Freiheit von Schmerz – sondern, viel bedeutender als all diese Fähigkeiten oder Kräfte, um dem Sucher zu demonstrieren, wie wir leidenschaftlich im wahren Zentrum unseres Wesens stehen: wach und achtsam für jenen nicht voraussagbaren Wunsch, das wahre Begehren, des Geliebten. Im Feuer stehen heißt, im Augenblick zu sein, vollkommen gegenwärtig unter welchen Bedingungen auch immer. Das ist Ibn Arabis »Garten inmitten der Flammen«, eine »Herrlichkeit«, weil er die kühle, grüne, fruchtbare Perspektive ist, aus welcher der sich niemals verzehrende Brand der Mannigfaltigkeit als eins und gleichzeitig als vieles beobachtet wird. Rumis Aufruf, darin zu stehen und sich nicht zu bewegen, ist eine in der Sprache der Liebe geäußerte Aufforderung, eine Art allerhöchster Achtsamkeit zu üben.
In dieser Küche kochen wir nicht für Geld oder, um Mägen zu füllen, noch kochen wir als Ausdruck unserer eigenen Persönlichkeit oder zur Demonstration unseres Könnens; wir kochen, um uns für unseren Geliebten zuzubereiten, weil wir Semseddins Fuß sein und die Transformationsenergie wahrer Gegenwärtigkeit, der Gegenwart der Liebe, erfahren wollen. Wir wollen vom Leben selbst belebt werden und in seinem verwandelnden Feuer stehen.
Diesem Streben also fest verpflichtet, müssen wir zum praktischen Kern der Sache zurückkehren – zum Prozess als solchem. Denn in unserer Küche ist das Kochen nicht die Folge einer Philosophie oder eines Glaubens; es ist ein experimentelles Lernen, ein äußerst strenges und zutiefst befreiendes. Es ist die Sache an sich. Rumi, der Erzieher schlechthin, beschreibt das Kochen von Kichererbsen in einem berühmten Gleichnis als eine Metapher für die Erziehung von Menschen, die sich selbst als das kennenlernen wollen, was sie sind. Die Kichererbse versucht, aus dem Kochtopf zu springen, doch die Köchin wirft sie ins wilde Gebrodel zurück. Vielleicht denkt die Kichererbse, sie sei bereits gut genug, oder sie hat Angst oder glaubt, sie sei eine Erdbeere und gehöre gar nicht in dieses Gericht. Was auch der Grund sein mag für ihren Versuch, ihrer Bestimmung zu entfliehen, ihre Rückkehr in die Hitze ist gewiss – eine direkte Demonstration der heilenden Wirkung von Vereinigung und Einheit und davon, wie die einzelne Zutat ihren Platz im Ganzen findet, einen Platz, ob sie es nun anerkennt oder nicht, der ihr von der ihr innewohnenden Natur zugewiesen wird. Essbar gemacht zu werden, bedeutet, ganzheitlich und schmackhaft mit einer Ordnung in Übereinstimmung zu kommen. Für die Kichererbse ist das die Aufweichung der Schranke ihres Dörrzustandes durch heißes Wasser, das ihr zur Erfüllung als Hummus verhilft, zu ihrer vollständigen Auflösung im gemeinsamen Püree. Diese Integration von Teil und Ganzem bedeutet keinen Verlust von Identität, denn Hummus wird aus Kichererbsen gemacht, und nicht aus Erdbeeren. Ganz im Gegenteil wird eine neue und stärkere Erscheinungsform ihrer selbst ins Sein gebracht – herausdestilliert durch ihre Teilhabe am kollektiven Charakter, unter stützt durch die Gesellschaft ihrer Gefährten, hervorgehoben durch den Zitronensaft, den Johannes der Täufer der Zutaten, der den Gaumen mit der Ankündigung eines ihm nachfolgenden Größeren erweckt, und verstärkt durch das Salz, diesem vollkommenen Diener, der den Geschmack einer jeden Zutat außer ihm selbst hervorbringt – mit einem neuen und weiterentwickelten Aroma, das in ihrer rohen Isolation für die Kichererbse unerreichbar gewesen wäre.
Und so herrscht selbst in dieser Betriebsstätte – mit all ihrem blitzblanken Stahl, ihren Klingen und Schüsseln, ihrem Feuer und Eis – eine Vertrautheit und eine Erhabenheit, die der Absicht entspringen, sich selbst mitten im Leben kennenzulernen. Die Gnade dieser Vision mag jederzeit auf jeden herabsteigen, der sich in ihre freie Sphäre begibt. Hohe und elegante viktorianische Fensterrahmen begrüßen das Licht des Nordwesthimmels, von seinen fahlen winterlichen Grautönen bis zum afrikanischen Orangegold seiner Sonnenuntergänge im Sommer, so dass manchmal eine Person beim Hacken von Petersilie oder beim Auspressen von Zitronen das Motiv für einen heutigen Vermeer abgäbe, ihre Bewegungen jetzt in dieser grenzenlosen Gegenwart Modulationen der Stille, so dass rein gar nichts geschieht, auch wenn das Messer noch schneidet und der Saft noch tropft. Genau das habe ich gesehen und selbst gefühlt; und es liegt nicht nur an der Szenerie oder an der kontemplativen Ausrichtung der Beshara-Schule – sondern an der Gegenwart des Menschen, der sowohl als Transformator wie auch als Transformierter wach irgendwo in der Nähe des wirbelnden Zentrums seines Seins schwebt, wo Handlung und Ruhe, Fähigkeit und Unfähigkeit aufeinandertreffen.
Wo sonst, sollte man sein?
Aus: Der Pfad der Kichererbse – Ein Lesebuch vom Kochen und Gekochtwerden, Robert Cathomas & Helga Jacobsen [Herausgeber], Chalice Verlag, Xanten 2013, ISBN 978-3-942914-20-8